Dieser Artikel ist der 3. Teil unserer Serie: Was ist Gluten? Die ersten beiden Teile findest du hier: Teil 1: Was ist Gluten? und Teil 2: Ist Gluten für jeden schädlich?
Im heutigen Teil befassen wir uns mit den Veränderungen der letzten Jahre und schauen uns genauer an, wieso der Verzicht auf Gluten in den letzten Jahren immer populärer und empfehlenswerte geworden ist.
Veränderung von Weizen über die letzten Jahrzehnte
Unser Körper ist einfach nicht dafür ausgelegt, mit Gluten umzugehen. Unser Verdauungssystem hat eine Evolution von 2,5 Mio Jahren hinter sich. Gluten hat die Bühne erst vor 10.000 Jahren betreten und tägliche, massive Konfrontation mit diesem fremden Protein wurde erst in den letzten paar hundert Jahren relevant.
Noch auffälliger: es werden auch immer mehr alte Menschen, die “plötzlich” keinen Weizen mehr vertragen oder sogar Zöliakie entwickeln. Nach 70 Jahren Konsum ohne sichtbare Konsequenzen. Was passiert hier?
Verständlich wäre es ja, wenn vor allem junge Menschen diese Erkrankung bekommen, das ist dann halt angeboren. Aber bei den Älteren?
Ständiger Kontakt mit Gluten
Zum Einen nehmen wir auf dem einen oder anderen Weg immer mehr Gluten zu uns. Unsere Ernährungspyramide schreibt Vollkorn als Allheilmittel vor, fast jedes Fertigprodukt – egal ob ganze Mahlzeiten, Brühwürfel, Suppen, Saucen oder Gewürzmischungen – enthält Gluten, wenigstens aus lebensmittelchemischen Gründen. Gluten wird als Stabilisator in kosmetischen Produkten eingesetzt, dazu zählen allerlei Cremes, Gels und sogar Lippenstift. Die Exposition ist also allgegenwärtig.
Hautkontakt mit Gluten tut zwar Zöliakiekranken nichts, aber Weizenallergiker können hier durchaus beeinträchtigt werden. Zusätzlich können kleine Mengen der Allergene auch über Schleimhäute oder kleine Hautrisse eindringen.
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Weizen ist KEIN Naturprodukt
Zum Anderen hat sich Weizen in den letzten 10.000 Jahren, seit er auf der Bildfläche erschienen ist, stark verändert. Das ist nicht zufällig passiert, sondern das Ergebnis von Kreuzung und später von gentechnischer Veränderung.
Selbst der heute hochgelobte “Urweizen” ist keine natürlich vorkommende Pflanze sondern ein Resultat aus der Kreuzung zwischen Emmer und Einkorn, der eben vor 10.000 Jahren im Gebiet zwischen Euphrat und Tigris (im Gebiet des heutigen Irak) erschaffen wurde.
Seither wurde das Erbgut immer weiter gekreuzt und verändert. Natürlich mit guten Vorsätzen: gesteigerte Robustheit, höheren Erträgen, stärkeres Wachstum. Und Schutz vor Schädlingen, Fressfeinden. Das Problem ist, dass wir selbst auch Fressfeinde sind.
Speziell in den letzten 50-100 Jahren haben wir durch selektive Züchtung die meisten und drastischsten Veränderungen verursacht.
In der Studie “Presence of celiac disease epitopes in modern and old hexaploid wheat varieties: wheat breeding may have contributed to increased prevalence of celiac disease” wurde herausgefunden, dass der moderne Zwergweizen eine überproportional große Zahl an aktiven Genen enthält, die sich auf Glutensensitivität und Zöliakie auswirken.
Traditionelle Verarbeitung vs. industrielle Verarbeitung
Ein weiterer Faktor, der sich sehr stark auswirkt, ist die Art der Verarbeitung von glutenhaltigen Produkten, speziell Brot.
Früher, vor wenigen Jahrzehnten, war die Herstellung eines Sauerteigbrotes eine zeitaufwändige Angelegenheit. Der Teig durfte lange ruhen, wurde immer wieder geknetet. 24 Stunden oder länger hat es gedauert, bis ein Brot schlussendlich in den Ofen durfte.
In der Zwischenzeit haben sich dann Hefepilze und fermentierende Bakterien darum gekümmert, diverse Bestandteile im Teig zu zerlegen – so entsteht dann zum Beispiel die Milchsäure im Sauerteig.
Und das war ein wichtiger, wenn auch zufälliger Punkt: was unser Verdauungssystem nicht kann, können die Bakterien im Brotteig aber schon, solange der Teig noch nicht gebacken wurde. Glutenin und Gliadin werden verdaut oder fermentiert und sind in dieser Form zwar noch immer als Kleber tätig, aber kaum noch bioaktiv.
Das heißt zwar nicht, dass Zöliakiepatienten oder Menschen mit Glutensensitivität oder Weizenallergie deswegen handwerkliches Sauerteigbrot essen könnten – zu 100% glutenfrei wird es nie und im Weizen sind auch noch andere potente Allergene enthalten. Aber bei gesunden Menschen kann es trotzdem helfen, die Belastung zu minimieren. Nicht, dass wir jetzt auf einmal generell empfehlen würden Brot zu essen, aber… wenn, dann lieber so.
Natürlich hatte auch so ein Brot trotzdem noch einen Haufen Kohlenhydrate, aber früher war auch die körperliche Aktivität der meisten Leute noch um ein Vielfaches höher.
Heute sieht es aber (beides) anders aus. Ein Industriebrot oder auch ein gebräuchliches Bäckerbrot ist innerhalb einer Stunde im Ofen, keine Zeit für Bakterien irgendwas sinnvolles zu tun, geschweige denn Gluten zu verarbeiten. Geschmack kommt durch Zusätze (die im Übrigen in vielen Fällen gesetzlich NICHT ausgewiesen werden müssen) und nicht mehr durch traditionelle Verarbeitung.
So bleibt das Gluten in voller Menge und gleichzeitig höherer “Wirksamkeit” durch neue Züchtungen im Brot enthalten und belastet den Konsumenten stark.
Kurzgesagt: früher war nicht ALLES besser. Aber Brot irgendwie schon.
Technische Anwendungen von Gluten
Warum die Industrie nicht auf Gluten verzichtet, wenn es doch so schädlich ist, ist ein ganz anderes Thema.
Einerseits gibt es generell zur Schädlichkeit dieser Proteine unterschiedliche Meinungen und die Forschung ist in vollem Gang – wenn auch behindert von denjenigen Lobbyisten, für die die allgemeine Akzeptanz dieser Tatsachen eine Katastrophe wäre.
Zum anderen ist Gluten und die verwandten Stoffe aber auch für viele technische Anwendungen recht praktisch – natürlich vor allem in Lebensmitteln. Genau betrachtet sind die Eigenschaften von Gluten absolut genial und herrlich, wenn man die Kurz- und Langzeitschäden beiseite lässt.
Alkohol oder Drogen wären auch super, wenn sie nicht abhängig machen würden und dich auf Dauer umbringen. Klingt ein bisschen zynisch, aber ist doch so. Für die meisten Menschen ist ein gelegentlicher Rausch angenehm, aber die kurz- und langfristigen Nebenwirkungen sind es einfach nicht wert.
Zurück zur technischen Anwendung: Gluten hat als Klebereiweiß ganz viel mit der Struktur der Produkte zu tun, in denen es verwendet wird.
Die Brotkrume wird locker und luftig, in der Brotrinde ermöglicht es beim Backen den Maillard-Effekt, der für eine schöne Bräune, Knusprigkeit und Aroma sorgt.
Nudelteig wird flexibel aber stabil, so dass du die Nudeln kochen kannst, ohne dass sie sich auflösen. Blätterteig kannst du mit eben dieser Stabilität extrem dünn ausrollen, ohne dass er bricht oder krümelig wird.
Hefeteig kann aufgehen, weil Weizenmehl fein gemahlen werden kann und damit sehr leicht ist aber vor allem auch, weil das enthaltene Gluten ermöglicht, dass sich Gasblasen bilden und halten. Ohne Gluten ist der Teig nicht reißfest und das Gas, das die Hefe ausstößt kann entweichen – der Teig geht nicht auf. Deswegen ist Low Carb Hefeteig auch so schwierig, kurz vor “nicht machbar”.
Aufgrund all dieser Eigenschaften wird Gluten folgerichtig als Stabilisator verwendet – auch in Produkten, in denen nicht unbedingt Getreide enthalten sein müsste. Fruchtjoghurt-Erzeugnisse, Salatsaucen, Ketchup und Grillsaucen oder Saucenpäckchen. Auch Suppen und bestimmte Getränke (vor allem Bier und Kornbrände), geriebener Käse (dort wird oft glutenfreie Maisstärke aber auch oft Weizenstärke als Trennmittel verwendet) sind nicht zwangsläufig sicher. Kartoffelprodukte, Panaden, Schlemmerfilet, Brathering – überall wird häufig Weizenmehl oder pures Gluten verwendet. Sogar Süßigkeiten und Knabbereien wie Nussmischungen oder Chips können absichtlich mit Gluten oder Weizen versetzt sein.
Natürlich immer mit einem bestimmten Grund – kein Lebensmittelkonzern setzt einen Zusatzstoff, der Geld kostet, ohne Grund ein. Geschmack ist es aber eigentlich nie und Nährwert sowieso nicht. Es ist immer ein technischer Grund wie die Wirkung als Emulgator, Stabilisator oder zusammen mit Mehl als Trennmittel.
Die Liste geht weiter mit vielen süßen und deftigen Brotaufstrichen und allen möglichen weiteren Produkte, an die man unter Umständen nicht denkt.
Verwendung in non-food Produkten
Diese wunderbaren Eigenschaften machen sich natürlich auch in Produkten gut, die keine Lebensmittel sind. Pflegeprodukte und Kosmetika wie Cremes, Zahnpasta, Lippenstift und Make Up werden damit versetzt, um die Konsistenz zu verbessern.
Nahrungsergänzungsmittel können ebenso betroffen sein, auch hier wieder als Trennmittel. Die Industrie findet immer neue Anwendungsmöglichkeiten, weil Gluten einfach praktisch ist.
Die gute Nachricht – Kennzeichnungspflicht
Da Gluten und Weizen berechtigtermaßen als Allergen gelten, müssen sie auch ausgewiesen werden, auch wenn nur Spuren enthalten sein könnten. Die meisten Hersteller realisieren die Kennzeichnung von Allergenen mittlerweile im Fettdruck in der Zutatenliste, darunter findet man auch oft Weizen. Das ist auch gut so, weil das ist gesetzlich vorgeschrieben und wird zumeist auch eingehalten.
Aber es gibt natürlich noch andere Namen dafür, mir sind derzeit 18 bekannt: Gluten, Weizen, Weizenstärke, Weizeneiweiß, Weizenkleber, Gerste, Gerstenmalz, Gerstenmalzextrakt, Seitan, Roggen, Hafer, Dinkel, Grünkern, Einkorn, Kamut, Bulgur, Emmer und Triticale.
Die sehr gute Nachricht dabei ist allerdings, dass grundsätzlich alle E-Nummern glutenfrei sein müssen. Wenn es um die Bewertung von Lebensmittelzusatzstoffen mit E-Nummer geht, brauchst du dir also gar keine Gedanken um Gluten zu machen.
Die Menge machts(?)
Wenn du nicht unter Zöliakie oder anderweitig akuter Glutenintoleranz oder Glutensensitivität leidest, dann könnte man ja sagen: Hey, wir sind von so vielen Umweltgiften betroffen, da kann ein bisschen Gluten ja nicht so furchtbar schlimm sein!
Und vielleicht stimmt das ja sogar. Es gibt noch viele andere Wege, wie wir regelmäßig unseren Darm und unser Verdauungssystem reizen. Und ein bisschen positiver Stress ist vielleicht auch gar nicht schlecht, das trainiert uns.
Das ist in vielen Fällen absolut richtig. Die gesünderen Kindern sind die, die draußen im Dreck spielen dürfen – nicht die, die in einer pseudo-sterilen Umgebung aufwachsen. Ob das auch mit Gluten so ist, also ob etwas Exposition uns nicht nur kaum schädigt, sondern sogar stärker macht, ist aber nicht bekannt.
Ich will dem nicht mal widersprechen, ich weiß es einfach nicht. Ich kann mir sogar vorstellen, dass das wirklich stimmt.
Das Problem ist eher die Kontrolle. Wieviel nehmen wir tatsächlich auf, wieviel davon ist gut für uns und wann wird es plötzlich zu viel?
Und sind wir mal ehrlich: wer nicht gerade diagnostizierte Zöliakie hat, hat vermutlich sowieso ständige Exposition gehabt, über Jahrzehnte hinweg. Auch wer keine akuten Probleme mit diesen Proteinen hat, aber vorsichtshalber glutenfrei lebt (wie wir), der hat trotzdem immer mal wieder Kontakt mit dem Zeug.
Man lebt ja als nicht akut Erkrankter nie zu 100% im Zölibat. Du hast mal nen Ausrutscher, es gibt alle paar Monate mal normale Nudeln oder Brot, man is(s)t auswärts und bekommt es gar nicht mit – das passiert und das ist vermutlich auch in Ordnung. Und genau so halten wir es.
Ich habe überhaupt keine Symptome, die ich eindeutig Glutenkonsum zuordnen könnte, auch wenn ich vermute, dass ich träger und müder werde, wenn ich sündige – aber das kann dann auch mit den damit verbundenen Kohlenhydraten liegen.
Bei Vroni ist es etwas spürbarer, sie bekommt relativ voraussagbar Hautrötungen und Juckreiz, wenn sie Weizenprodukte isst, aber das ist mengenabhängig. Sie kann eine bestimmte Mengen ohne Symptome konsumieren und je gesünder wir uns ernähren, desto größer wird diese Menge. Allerdings probieren wir das nicht besonders oft aus. Die Gelegenheiten pro Jahr kannst du an einer Hand abzählen.
Vroni muss es aber länger büßen als ich und unser Hausarzt vermutet bei ihr eben genau so eine nicht diagnostizierbare Glutensensitivität, bei der sich die Tight Junctions durch das Gliadin nicht nur ein paar Minuten öffnen sondern tatsächlich eher über Stunden oder Tage.
Für uns funktioniert unser Weg bezüglich akuter Symptome schon ziemlich gut. Ob die 99% Lösung mit gelegentlichen Ausrutschern aber auf Dauer die Lösung ist? Das werden wir vermutlich erst am Ende unserer Lebenszeit wissen, wenn wir zurückblicken können und dann sagen können: “Jup, mein Darm hat länger durchgehalten als mein Herz, war die richtige Entscheidung.” Klingt makaber, aber so ist es vermutlich am Ende.
Ist es das wirklich wert?
Das ist absolut eine Frage der persönlichen Einstellung. Glutenfreie Ernährung ist in der heutigen Zeit erstmal eine Einschränkung der Wahlmöglichkeiten und auch der Lebensqualität. Aufpassen und bewusst ernähren ist aufwändiger und anstregender als einfach zugreifen zu können.
Es hilft auch nichts, sich das schönzureden. Natürlich ist es die gesündere Wahl und wir machen das für dauerhaft höhere Lebensqualität bis in ein hohes Alter.
Trotzdem – akut, jetzt und hier ist es unbequemer als “vorher”. Wenn man damit klarkommt und weiß, was und warum man sich das “antut”, dann kann man damit auch umgehen – so wie wir.
Aber die Entscheidung, ob man sich für derartige Maßnahmen und Einschnitte entscheidet, muss jeder für sich selbst treffen. Nur dann ist es durchzuhalten.
Jetzt also die Frage an dich: wieviel Einschränkung ist die Aussicht auf ein gesünderes, längeres Leben wert? Für uns ist die Antwort klar, aber wie sieht deine Sicht darauf aus?
Ich glaube nicht, dass es hier falsche Antworten gibt – nur Ansichten. Schreib uns deine. Da unten in die Kommentare.
Lesestoff zum Thema
Dr. med. William Davis – Weizenwampe: Warum Weizen dick und krank macht *
Dr. David Perlmutter – Dumm wie Brot: Wie Weizen schleichend ihr Gehirn zerstört *
Dr. Alessio Fasano – Die ganze Wahrheit über Gluten: Alles über Zöliakie, Glutensensitivität und Weizenallergie *
Die ersten beiden gibt es auch als Audible Hörbuch (ich hab beide) und ich muss sagen, das ist eine sehr angenehme Form, die Bücher nebenbei zu konsumieren. Wenn du das auch mal ausprobieren möchtest, kann du hier ein Audible Probeabo abschließen: 30 Tage kostenlos testen und jederzeit kündbar – keine Fallstricke, dafür lege ICH meine Hand ins Feuer, ich bin schon sehr, sehr lange Kunde dort!
Aber das nur am Rande.
So, das war jetzt der Abschluss unserer Gluten-Miniserie. Wenn noch irgendwelche Fragen offen geblieben sind – und das MUSS so sein, wir können ja nicht mit 3 Blogartikeln auf Vollständigkeit hoffen, dann schreib sie doch unten in die Kommentare oder schick sie als E-Mail an sprechstunde@salala.de – dann können wir sie vielleicht in unserem 14-tägigen Livestream beantworten :)
Viele Grüße
Nico
Du hast Teil 1 und Teil 2 noch nicht gelesen? Hier geht’s lang:
Teil 1: Was ist Gluten?
Teil 2: Ist Gluten für jeden schädlich?
Letzte Preisaktualisierung: 12.12.2024 um 08:40 Uhr / Der angegebene Preis kann seit der letzten Aktualisierung gestiegen sein. / Bilder von der Amazon Product Advertising API / Als Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.